Wer braucht in Zeiten Künstlicher Intelligenz noch klassische Versicherungsgesellschaften?

von Dirk Niederhaus und Dr. Götz Volkenandt, zuerst erschienen bei Management Circle

         

Was wäre,

… wenn die allermeisten Prozesse einer Versicherung automatisierbar wären?
… wenn Kunden innerhalb weniger Minuten einen bestätigten Versicherungsvertrag abschließen könnten, ohne die Wohnung zu verlassen?
… wenn Schäden schnell und unbürokratisch reguliert werden würden?
… wenn der Wettbewerb deutlich günstigere Policen anbieten könnte?

Das ist unrealistisch? Wirklich?

Dass Künstliche Intelligenz in der Versicherungsbranche eine große Rolle spielen wird, dazu sind sich die meisten Experten und Protagonisten der Versicherungswirtschaft ja schon weitgehend einig. Allerdings ist noch nicht ganz klar, mit welcher zeitlichen Perspektive sich welche Szenarien und Geschäftsmodelle durchsetzen werden. Das ist dann auch ein Grund für einige Unternehmen, in ihren Strategien nicht an die Wurzel zu gehen, sondern mit den auch in anderen Branchen üblichen Digitalisierungsvorhaben behäbig voranzuschreiten.

Grundsätzlich ist diese Branche prädestiniert für automatisierte Prozesse und neue Geschäftsmodelle. Auch lässt sich wunderbar über individualisierbare Angebote philosophieren, also nicht nur die PKW-Versicherung für Garagenbesitzer, sondern ein Angebot in Abhängigkeit vom Fahrverhalten, den Fahrzeiten und Fahrzielen beispielsweise. Nur weil es machbar ist, muss es aber nicht erfolgreich sein. Es bleiben genügend große Unsicherheiten beim Zukunftsdenken, so dass man nicht nur auf einen „Zug der Entwicklung aufspringen“ kann. Genau das bereitet Kopfzerbrechen. Denn heute werden die Weichen gestellt und es gibt niemanden, der genau wüsste, wie sich der Markt entwickeln wird, es gibt nur wahrscheinlichere und unwahrscheinlichere Möglichkeiten und Trends, aus denen sich Szenarien zum eigenen Handeln ableiten lassen.

„Zukunftsdenken“ vom Kunden

Eine der größten aller Preisfragen ist die nach den zukünftigen Kundenwünschen. Welche Art der Absicherung, welche Art des Vertriebs der Absicherung und welche Art der Schadensregulierung werden Kunden in Zukunft goutieren? Daraus, dass sich neue und individuellere Angebote entwickeln lassen, können wir schließen, dass es auch Versicherer geben wird, die genau das anbieten: Ein sehr individuelles Angebot. Dieses Angebot deckt im (nur gedanklichen) Extremfall ausschließlich das Risiko des einzelnen Versicherten jeweils und verzichtet dabei auf den Sozialisierungseffekt, ist also eigentlich nur eine für den Versicherten verwaltete Sparform. Gerade die wenigen Großschäden lassen sich allerdings nicht sicher vorhersagen, daher wird dieses Extrem weder erreicht werden, noch wird es aus Sicht vieler Versicherter wünschenswert sein. Es wird also sicher Grenzen der Individualisierung von Angeboten auf Wunsch der Kunden geben.

Gleichzeitig entwickeln sich neue Geschäftsmodelle in der Versicherungswirtschaft: Einige Unternehmensmodelle basieren auf reinem Wachstum. Das Unternehmen zieht seine Gemeinkostendeckung und seinen Gewinn ausschließlich aus dem Versicherungsvolumen, nicht mehr aus komfortabel kalkulierten Risiken. Der Kunde bezahlt für eine Risikokalkulation und eine Flat-Fee zur Kostendeckung und den Gewinn des Versicherungsunternehmens. Ist der Gesamtschaden im Jahr niedriger, so wird dieser Betrag an die Versicherten am Jahresende ausgeschüttet. Der Kunde erhält damit mehr Transparenz über die Kosten der reinen Versicherungsverwaltung. Ist das nur eine Randerscheinung? Wie würden Sie als Kunde auf dieses Angebot reagieren? Genau: Je nach Breitenwirkung kann dieses Modell durchaus eine Wirkung haben.

„Zukunftsdenken“ vom Versicherer

Die neuen Individualisierungen von Versicherungsverträgen können den Versicherungsmarkt insofern bewegen, als die Vergleichsportale ihre Marktmacht wieder verlieren würden. Denn wirklich vergleichbar sind Versicherungsangebote je nach Umfang der Individualisierungen nicht mehr. Die Frage ist allerdings, ob dieser Vertriebskanal nicht auch wichtig ist aus Sicht der Versicherungsbranche. Setzt sich aber Individualisierung durch, so hat die Branche keine Wahl mehr; sie muss sich darauf einstellen. Individualisierung bedeutet auch, dass strukturelle Vorteile anders und viel spezifischer herausgearbeitet werden müssen. Die Datengrundlage entscheidet, wie weit man in dem Angebot individueller Versicherungsangebote gehen kann. Die Datengrundlage muss man sich jedoch zielgerichtet erst erarbeiten. Und genau daran arbeiten einige Unternehmen heute sehr intensiv. Aus Marktsicht hätten Google, Amazon und Apple zusammen genug Daten, um ein höchst individuelles Risikoprofil heute schon erstellen zu können. Künstliche Intelligenz braucht Trainingsdaten, die als Grundlage der individuellen Risikoprofile dienen können. Auch aus Versicherer-Sicht gibt es daher Grenzen des Individualisierungstrends in der Angebotserstellung.

Während hinsichtlich der Individualisierung von Angeboten eine gewisse Entwicklungsrichtung vorgezeichnet scheint, lassen sich neue Geschäftsmodelle nicht so einfach „vorhersagen“. Es gibt kaum Grenzen des Denkens hierfür.

Künstliche Intelligenz als Enabler

Ansätze der reinen Automatisierung und Vereinfachung sind heute bereits möglich und teilweise auch bereits umgesetzt. Neben der Angebotserstellung auf Anforderung lassen sich auch unaufgefordert passende Angebote erzeugen, Schäden automatisiert abwickeln und Vertragsänderungen automatisiert anstoßen und Kunden beraten (zum Beispiel mit Bots). Absehbar ist, dass Auskünfte automatisiert auch kompliziertere Fragestellungen beantworten können werden. Doch die eigentlichen Fragen der Assekuranz bewegen sich um die sich ständig auch verändernden Wünsche und Vorstellungen der Kunden. Möchten Kunden eher eine Art Universalversicherung als monatliche Flat-Rate und wollen sie sich nicht mit komplizierten Bedingungen auseinandersetzen oder wollen Kunden lieber weiterhin Einzelversicherungen und die Freiheit, für jede Einzelversicherung ein Angebot eines anderen Versicherers auswählen zu können. Werden Kunden sich einem Online-Angebot vollständig hingeben oder suchen sie weiterhin Beratung. Bezahlte „unabhängige“ Beratung hat sich ja bisher nicht wirklich durchgesetzt, so dass dies wohl keinen ausreichenden Mehrwert aus Kundensicht hat – keine Garantie, dass das so bleibt! Die denkbaren Kundenwünsche stellen das Zentrum aller Überlegungen dar.

Ein Versicherungsunternehmen, dass jetzt noch keine Strategie hat, weder für den Einsatz der Künstlichen Intelligenz in einem klassischen Geschäftsmodell, noch für neue Geschäftsmodelle, das wird in Zukunft deutlich weniger Handlungsspielräume haben. Denn eine Strategie braucht einen zeitlichen Vorlauf für die Umsetzung. So braucht es beispielsweise Zeit, um zu adäquaten Trainingsdaten für das „Machine Learning“ zu kommen. Damit möchten wir auch eine zentrale Ausgangsfrage beantworten: Die Unternehmen der Versicherungsbranche müssen sich dringend heute mit dem potenziellen Einsatz Künstlicher Intelligenz auseinandersetzen. Verzögerungen sind schlichtweg wirtschaftlich unvertretbar. Die Ausgangsfrage nach den Szenarien der Entwicklung ist dagegen noch nicht eindeutig beantwortbar. Verschiedenste Branchen experimentieren mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz; das wird Folgen für viele Branchen haben, deren Grenzen noch nicht absehbar sind. So ermöglicht die Blockchain-Technologie möglicherweise auch Absicherungsgeschäfte ohne die klassische Assekuranz. Werden sich derartige Entwicklungen durchsetzen? Niemand weiß das genau. Es bedarf Anwendungen, Interessengruppen, Werbung und viele dafür günstige Konstellationen, solche Lösungen populär zu machen. Möglicherweise ist aber bis dahin das Angebot der Versicherungsunternehmen so interessant und wettbewerbsfähig, dass Lösungen auf Basis der Blockchain keine große Rolle im Versicherungsmarkt spielen werden.

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass sich die Branche nicht den Handlungsspielraum nehmen lassen sollte; das bedeutet, heute die Voraussetzungen zu schaffen, zum Beispiel einen Zugang zu verwertbaren Daten zu erhalten. Daneben empfehlen wir einen passenden und neuen Strategieprozess. Unternehmen mit der Historie der Versicherungsbranche sind es vielfach nicht gewohnt, in der Dimension neuer Geschäftsmodelle zu denken. Es wird aber Zeit, genau das zu tun!